Da schlägt das pädagogische Graswurzelherz höher
31 10 2007
Battambang (12.10.2007)
Anmerkung: Zu diesem Artikel gibt es leider keine Bilder, da ich nur meine Video-Kamera dabei hatte und wir noch keine Möglichkeit gefunden haben, Bilder von HDV auf die Computer hier zu übertragen. Sobald möglich, reichen wir Bildmaterial nach.
Unser Aufenthalt in Kambodscha und generell in Asien neigte sich seinem Ende zu, und irgendwie hatten wir das Gefühl, doch irgendwie meist den ausgetretenen Touristenpfaden gefolgt zu sein (was in Kambodscha auch nicht wirklich dumm ist angesichts der beträchtlichen Zahl von noch immer nicht entschärften Landminen, die seit der Khmer Rouge-Zeit bestimmte Landstriche zu Todesfallen machen). Gut, die Zeit in Phnom Penh, wo wir im Gegensatz zu den meisten Touris nicht das zwei-Tages-Schnellprogramm durchgezogen haben, sondern dank Silkes Gastfreundschaft wirklich gemütlich ganze zehn Tage in einer eher touristenarmen Gegen abhängen konnten und uns immerhin fast als Ex-Pats (das sind die vorübergehend nach Kambodscha umgesiedelten Westler, die meist in NGOs oder sonstwie sozial, medizinisch oder politisch tätig sind) fühlen durften. Das war schon etwas Besonderes, nicht ganz mainstream. Aber dennoch, obwohl wir unser Bestes taten, um wenigstens ein bisschen Khmer zu lernen (was von den Einheimischen stets mit einem Gewissen Erstaunen gewürdigt wurde), war uns der wahre Kontakt zu den Menschen die meiste Zeit einfach doch verwehrt geblieben (wenngleich nicht so sehr wie in Thailand, wo alles nur noch "bisnis, bisnis" ist). Diese Gedanken beschäftigten mich auf der siebenstündigen Flussfahrt von Siem Reap nach Battambang im Westen Kambodschas, der einzigen größeren Stadt zwischen Angkor Wat auf der Transitstrecke nach Bangkok.
Und da kam uns Narath gerade recht. Eine Amerikanerin, die zur Zeit vorübergehend in Bangkok als Lehrerin arbeitet, und die wir im (empfehlenswerten!) Restaurant "Smoking Pot" (Wortspiel vermutlich beabsichtigt) in Battambang kennen lernten, berichtete uns von ihm, dem Tuk Tuk-Fahrer, der morgens die wenigen Touris, die sich auf ihrem Weg nach Thailand hierher verirren, durch die Gegend kutschiert und am Nachmittag eine Englisch-Schule für sein Dorf organisiert. Sie hatte ihn durch Zufall getroffen, war für einen Nachmittag zu Besuch in die Schule gegangen, und berichtete uns nun mit glühender Begeisterung von diesem Ort. Ein echtes Graswurzelprojekt, Hilfe in Form von Bildung für die Armen dieses gebeutelten Landes, ganz ohne staatliche oder gar internationale Hilfe. Initiative von innen, die hier oft so rar ist. Das war die Chance mehr als nur das Touriprogramm zu absolvieren.
Gleich am nächsten Tag kontaktierte ich Narath per Mail, und trotz eines Feiertages (Pchum Ben), der das Leben auf bislang ungekannte Weise lahmlegte, und des engen Zeitfensters vor unserer Weiterreise ließ sich noch ein Besuchstermin finden. Carmen war an dem Tag leider krank (siehe "Counting Flowers on the Wall"), doch ich konnte nicht anders als sie ein bisschen im Stich zu lassen (so gut versorgt wie ich konnte) und mir das anzuschauen.
Ich treffe mich also Freitag Nachmittag um 14 Uhr mit Narath vor dem städtischen Museum. Er wartet bereits auf mich, ein sehr netter und offener junger Mann im Alter von 26 Jahren. Sein Englisch ist für hiesige Verhältnisse tatsächlich passabel (Grundkurs Klasse 11: 08-10 Punkte). Wir fahren mit seinem Motorradtaxi (also dem üblichen Moped) in sein Dorf mit Namen Sal Gram, etwa 10 km südlich von Battambang. Begeistert berichtet er von seiner Initiative: Seit drei Jahren läuft das Projekt, in dem den armen Kindern seines Dorfes kostenlos Englischunterricht erteilt wird. Im ersten Jahr unterrichtete er alleine eine Klasse, aus der er dann die besten Schüler als Multiplikatoren rekrutierte und seither in den jüngeren Klassen als Lehrer einsetzt. Mittlerweile sind es rund 150 Schüler/innen und 12 Lehrer. Die Räumlichkeiten leiht er sich von der Public School im Dorf, die um 17 Uhr schließt. Die Sonne geht (über das Jahr hin recht konstant) um 18 Uhr unter, es bleibt also eine knappe Stunde, um die Baracken, in denen es natürlich keinen Strom gibt, zu nutzen.
Als wir ankommen, ist die Schule wegen des Feiertages noch geschlossen, doch obwohl der reguläre Unterricht nicht stattfindet, erwartet Narath dennoch den Großteil seiner Schüler zur freiwilligen und zusätzlichen Englisch-Schule. Er berichtet mir von dem gutherzigen Schuldirektor, der ihm die Räume zur Verfügung stellt, und von den finanziellen Engpässen: Er versucht alle seine Hilfslehrer angemessen zu entlohnen, doch selbst Kosten für Schulhefte, Bücher und andere Verbrauchsmaterialien sind nicht gedeckt. Er selbst steckt die Hälfte seiner Einkünfte aus seiner Tätigkeit als Motorradtaxifahrer in die Sache, die andere Hälfte braucht er für seine Familie. Staat, Kommune oder NGOs (non-governmental organisations) beteiligen sich nicht, die vorhandenen Gelder gehen an andere Projekte oder verschwinden in einem Sumpf aus Vetternwirtschaft und Korruption, der Kambodscha weiterhin im Würgegriff hat. Somit ist die Schule auf Hilfe von Sponsoren angewiesen.
Schon habe ich eine kleine Vision: Wie wäre es mit einer deutsch-kambodschanischen Kooperation? Immer wieder habe ich mit Carmen diskutiert, dass der deutsche Lehrplan für Geschichte und Geographie Asien doch stets stiefmütterlich behandelt, da gäbe es doch eine spannende Lücke zu füllen. Konkreter: Die Schule in Sla Gram könnte Material erstellen, mit dem das Leben in Kambodscha, die Kultur, das Land, die Geschichte etc. vorgestellt werden, wir bauen Brief- oder Mailfreundschaften zwischen deutschen und kambodschanischen Schülern auf, und an meiner Bensheimer Schule machen wir einmal im Jahr einen Kambodschatag, dessen Erlös direkt an dieses Projekt geht, ganz ohne die üblichen Reibungs- und Verwaltungsverluste von großen etablierten Organisationen. Ein echtes Graswurzelprojekt eben.
Ich habe meine Videokamera dabei und überlege zusammen mit Narath, wie wir in Form eines Videoportraits das Projekt vorstellen könnten, schließlich will die Schulgemeinde zu Hause ein Bild von der Sache bekommen. Wir drehen Interviews mit ihm, einem der Lehrer und einem Schüler, den wir zufällig schon vor Unterrichtsbeginn treffen.
Es sind noch zwei Stunden Zeit, und Narath stellt mich seiner Familie vor. Was ich erfahre ist erschütternd, ohne mein Hintergrundwissen über Kambodscha würde man es vielleicht als unglaubwürdig abtun: Naraths Vater wurde von den Khmer Rouge angeschossen und leidet seither an einer Art Epilepsie, die allerdings nur mit teueren importierten Medikamenten zu behandeln ist. Die Produktion der Tabletten wurde in Thailand leider eingestellt, das französische Ersatzprodukt ist ein Vielfaches teurer. Es gibt jedoch noch mehr Khmer Rouge-Opfer in der Familie: Der Großvater, der Arzt war, wurde - wie so viele Gebildete - von den Khmer Rouge ermordet. Fast jede Familie in Kambodscha beklagt Opfer aus jener Zeit, zwischen einer und drei der acht Millionen Menschen fielen dem wahnsinnigen Schlachten damals zum Opfer.
Naraths Familie lebt in ärmlichen Verhältnissen: Gemauerte drei Wände, Lehmboden, der übliche Unrat überall, zur Essenszeit verkauft man gegrillte Fleischspieße. Narath fährt mich zum Haus seines Schwiegervaters, wo er mit Frau und Tochter wohnt, seit sein eigenes Haus abgerissen wurde, weil das Grundstück verkauft werden musste. Ich werde zum Essen eingeladen, es gibt Reis, Morning Glory (ein gekochtes grünes Gemüse mit kleinen gegarten Fischen aus dem Reisfeld), gesalzenen Fisch, eine scharfe Erdnuss-Anchovi-Paste und zum Abschluss (noch anlässlich des Feiertages) Sticky Rice Cake (jeweils entweder Banane oder Schweinefleisch, eingehüllt in Reis und ein Bananenblatt, und dann gekocht). Ein gar nicht so schlichtes und sehr schmackhaftes Mahl, das aber vermutlich nicht repräsentativ ist für die Ernährung an gewöhnlichen Tagen.
Anschließend besuchen wir einen seiner Freunde, der sich um die jüngsten Schüler kümmert und ihnen im Wesentlichen das englische Alphabet beibringt. Mein Interview mit ihm verläuft zäh, er versteht kaum eine meiner Fragen, und schließlich gibt ihm Narath die Antworten Wort für Wort auf Englisch vor. Da gibt es noch einiges zu tun, denke ich mir, aber immerhin tun sie etwas. Man muss da seine Ansprüche als Westler eben runterschrauben.
Schließlich wird es Zeit, zur Schule zu gehen. Narath zieht sich um, während ich weitere Aufnahmen vor der dörflichen Umgebung mache und ein wenig Lokalkolorit einfange.
Als wir an der Schule ankommen, brummt der Laden. Ich schätze, dass da rund 80 Fahrräder stehen und noch mehr Kinder und Jugendliche den Schulhof und die bereits geöffneten Klassenzimmer bevölkern. Ich schaue mich um. Eine Klasse wird sogar von einem jungen Mönch in der traditionellen orangenen Robe unterrichtet. Ich lerne einen der jungen Kollegen Naraths kennen, der immerhin in ganzen Sätzen Englisch spricht, und gehe in seine Klasse. Rund zehn Kinder sitzen da, im Alter zwischen 12 und 15 Jahren. Ich werde nett (aber irgendwie unverständlich) begrüßt und der Unterricht beginnt. Der Lehrer liest einen Text vor und schreibt anschließend sämtliche im Text genannten Berufe an die Tafel, einschließlich der Bedeutung auf Khmer. Es ist nicht gerade der neueste Stand der pädagogischen Lehre, aber ich bin fasziniert, mit welcher Aufmerksamkeit und Disziplin die Kinder arbeiten und den Tafelanschieb in ihre Hefte übernehmen. Kein Getuschel, keine Störungen - der Traum eines jeden Lehrers! Ich werde dieses Video meinen Schülern in Deutschland zeigen, nehme ich mir vor. Vielleicht kommt dann auch bei ihnen an, welchen Wert das Gut Bildung hat, und dass die Armen in der Welt das schon lange begriffen haben.
Dann kommt meine große Stunde: Der Lehrer bittet mich, die Wörter mit meiner deutlich authentischeren Aussprache vorzusagen und dann die Kinder aufzufordern, nachzusprechen und sie gegebenenfalls zu verbessern. Die Leistungsniveaus sind sehr unterschiedlich (das klingt schon fast wie ein Unterrichtsentwurf, Abschnitt Lerngruppenbeschreibung), aber ich versuche, möglichst ermutigend auf alle einzuwirken. Am Ende spiele ich noch ein kleines Sprachspiel zum Thema "parts of the body", bis es schließlich stockfinster wird und man die Tafel nicht mehr erkennen kann. Um 18 ist ein Unterrichten nicht mehr möglich, die Kinder werden nach Hause geschickt.
Ich unterhalte mich noch mit den jungen Nachwuchslehrern, die größtenteils High School Schüler sind. Alle sind sehr nett und sind regelrecht verblüfft, als ich von meiner Idee eines Kooperationsprojektes mit meiner eigenen Schule spreche, das immer klarere Formen in meiner Vorstellung annimmt.
Narath fährt mich zurück nach Battambang und berichtet von seinen weiteren Plänen, die Ideen scheinen ihm nicht auszugehen: Er möchte in einem benachbarten Dorf ein ähnliches Projekt ins Leben rufen. Seinen Landsleuten mangele es einfach an Initiative, doch er hoffe, dass eine weitere Schule in dieser Form nach einer Weile ein Eigenleben entwickeln könnte. Schließlich seien die Kinder die Zukunft dieses kaputten Landes, und Bildung sei in Zeiten, in denen das Land nun endlich langsam wieder Beziehungen mit dem Ausland aufbaut und sich profitable Formen von Tourismus und Handel herausbilden, einfach unerlässlich.
Er hat mir bereits zu Beginn dieses Ausflugs seinen Businessplan für die Schule vorgelegt und deutlich gemacht, dass er sich über eine Spende sehr freuen würde. Ich entschließe mich, $20 für Schreibmaterialien zu spenden, und gebe ihm noch $5 für Benzin und seine Familie. Für uns sind das lachhafte Beträge, in Kambodscha muss man bedenken, dass das durchschnittliche Monatseinkommen bei rund $60 liegt. Mit einem erfolgreichen Aktionstag in Bensheim könnte man den Schuletat vermutlich mit einem Streich sanieren.
Ich steige an der Straße zu meiner Unterkunft ab, und wir verbleiben mit großen Absichten. Der Ausflug ist weit mehr gewesen, als ich mir gewünscht habe. Er war nicht nur ein Einblick in das wahre Leben der Landbevölkerung gewesen, sondern möglicherweise auch noch der Beginn eines weiter reichenden Hilfsprojektes.
---
Carmen bedauert noch, dass sie nicht mitgegangen ist, als wir am nächsten Morgen auschecken um nach Bangkok weiterzureisen. Ich berichte dem Hotelmanager von meinen Erlebnissen am Vortag. Vielleicht kann ja auch er den einen oder anderen Gast dafür interessieren?
Seine Miene drückt Bedauern aus: "Der Mann ist bekannt. Die Polizei sucht nach ihm, weil es schon mehrere Beschwerden gab. Die Geschichte mit der Schule ist sein Geschäft." "Geschäft? Wie meinen?" "Er sucht sich gutherzige Westler, die er zu seiner vermeintlichen Schule einlädt. Durch Mundpropaganda werden alle Kinder im Dorf mobilisiert, jeder kommt mit seinen Schulunterlagen, die Klassenräume werden bezogen, es wird Schule gespielt."
---
Eine Inszenierung? Mit 150 Komparsen, mehreren Hauptrollen (wenngleich nicht immer auch Sprechrollen), und einem Dorf als Kulisse?
Ich kann es nicht glauben. Und deshalb lasse ich den Tag Revue passieren. Es gab da Momente, die mich stutzig gemacht hatten, in denen mein Vertrauen kurzzeitig aussetzte, aber nie lange genug, um ernsthaft Zweifel zu säen. Kann es sein, dass zum Teil völlig unfähige Multiplikatoren eingesetzt werden, um Kinder zu unterrichten? Wieso wirkten die (im lokalen Kontext durchaus glaubhaften) Geschichten von Schicksalsschlägen irgendwie ein bisschen dick aufgetragen? Wieso stehen auf dem Businessplan die Betriebskosten für einen Generator, wenn es in der Schule doch gar keine Lampen gibt? Und wieso fährt mich Narath bei der Rückkehr nicht so, wie bei den kambodschanischen Fahrern üblich, bis fast in die Hotellobby, sondern lässt mich am Anfang der Straße raus? Will er nicht gesehen werden?
Ich habe noch kein endgültiges Urteil gefällt und werde versuchen, noch ein paar Nachforschungen anzustellen. Aber ich konnte Carmen nur zustimmen, als sie sagte: "In Asien braucht man keine Angst vor Raubüberfällen zu haben. Die Leute hier haben schlauere Methoden, um einem das Geld aus der Tasche zu leiern. Lieber so als mit vorgehaltener Pistole!"
Thom
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Anmerkung: Zu diesem Artikel gibt es leider keine Bilder, da ich nur meine Video-Kamera dabei hatte und wir noch keine Möglichkeit gefunden haben, Bilder von HDV auf die Computer hier zu übertragen. Sobald möglich, reichen wir Bildmaterial nach.
Unser Aufenthalt in Kambodscha und generell in Asien neigte sich seinem Ende zu, und irgendwie hatten wir das Gefühl, doch irgendwie meist den ausgetretenen Touristenpfaden gefolgt zu sein (was in Kambodscha auch nicht wirklich dumm ist angesichts der beträchtlichen Zahl von noch immer nicht entschärften Landminen, die seit der Khmer Rouge-Zeit bestimmte Landstriche zu Todesfallen machen). Gut, die Zeit in Phnom Penh, wo wir im Gegensatz zu den meisten Touris nicht das zwei-Tages-Schnellprogramm durchgezogen haben, sondern dank Silkes Gastfreundschaft wirklich gemütlich ganze zehn Tage in einer eher touristenarmen Gegen abhängen konnten und uns immerhin fast als Ex-Pats (das sind die vorübergehend nach Kambodscha umgesiedelten Westler, die meist in NGOs oder sonstwie sozial, medizinisch oder politisch tätig sind) fühlen durften. Das war schon etwas Besonderes, nicht ganz mainstream. Aber dennoch, obwohl wir unser Bestes taten, um wenigstens ein bisschen Khmer zu lernen (was von den Einheimischen stets mit einem Gewissen Erstaunen gewürdigt wurde), war uns der wahre Kontakt zu den Menschen die meiste Zeit einfach doch verwehrt geblieben (wenngleich nicht so sehr wie in Thailand, wo alles nur noch "bisnis, bisnis" ist). Diese Gedanken beschäftigten mich auf der siebenstündigen Flussfahrt von Siem Reap nach Battambang im Westen Kambodschas, der einzigen größeren Stadt zwischen Angkor Wat auf der Transitstrecke nach Bangkok.
Und da kam uns Narath gerade recht. Eine Amerikanerin, die zur Zeit vorübergehend in Bangkok als Lehrerin arbeitet, und die wir im (empfehlenswerten!) Restaurant "Smoking Pot" (Wortspiel vermutlich beabsichtigt) in Battambang kennen lernten, berichtete uns von ihm, dem Tuk Tuk-Fahrer, der morgens die wenigen Touris, die sich auf ihrem Weg nach Thailand hierher verirren, durch die Gegend kutschiert und am Nachmittag eine Englisch-Schule für sein Dorf organisiert. Sie hatte ihn durch Zufall getroffen, war für einen Nachmittag zu Besuch in die Schule gegangen, und berichtete uns nun mit glühender Begeisterung von diesem Ort. Ein echtes Graswurzelprojekt, Hilfe in Form von Bildung für die Armen dieses gebeutelten Landes, ganz ohne staatliche oder gar internationale Hilfe. Initiative von innen, die hier oft so rar ist. Das war die Chance mehr als nur das Touriprogramm zu absolvieren.
Gleich am nächsten Tag kontaktierte ich Narath per Mail, und trotz eines Feiertages (Pchum Ben), der das Leben auf bislang ungekannte Weise lahmlegte, und des engen Zeitfensters vor unserer Weiterreise ließ sich noch ein Besuchstermin finden. Carmen war an dem Tag leider krank (siehe "Counting Flowers on the Wall"), doch ich konnte nicht anders als sie ein bisschen im Stich zu lassen (so gut versorgt wie ich konnte) und mir das anzuschauen.
Ich treffe mich also Freitag Nachmittag um 14 Uhr mit Narath vor dem städtischen Museum. Er wartet bereits auf mich, ein sehr netter und offener junger Mann im Alter von 26 Jahren. Sein Englisch ist für hiesige Verhältnisse tatsächlich passabel (Grundkurs Klasse 11: 08-10 Punkte). Wir fahren mit seinem Motorradtaxi (also dem üblichen Moped) in sein Dorf mit Namen Sal Gram, etwa 10 km südlich von Battambang. Begeistert berichtet er von seiner Initiative: Seit drei Jahren läuft das Projekt, in dem den armen Kindern seines Dorfes kostenlos Englischunterricht erteilt wird. Im ersten Jahr unterrichtete er alleine eine Klasse, aus der er dann die besten Schüler als Multiplikatoren rekrutierte und seither in den jüngeren Klassen als Lehrer einsetzt. Mittlerweile sind es rund 150 Schüler/innen und 12 Lehrer. Die Räumlichkeiten leiht er sich von der Public School im Dorf, die um 17 Uhr schließt. Die Sonne geht (über das Jahr hin recht konstant) um 18 Uhr unter, es bleibt also eine knappe Stunde, um die Baracken, in denen es natürlich keinen Strom gibt, zu nutzen.
Als wir ankommen, ist die Schule wegen des Feiertages noch geschlossen, doch obwohl der reguläre Unterricht nicht stattfindet, erwartet Narath dennoch den Großteil seiner Schüler zur freiwilligen und zusätzlichen Englisch-Schule. Er berichtet mir von dem gutherzigen Schuldirektor, der ihm die Räume zur Verfügung stellt, und von den finanziellen Engpässen: Er versucht alle seine Hilfslehrer angemessen zu entlohnen, doch selbst Kosten für Schulhefte, Bücher und andere Verbrauchsmaterialien sind nicht gedeckt. Er selbst steckt die Hälfte seiner Einkünfte aus seiner Tätigkeit als Motorradtaxifahrer in die Sache, die andere Hälfte braucht er für seine Familie. Staat, Kommune oder NGOs (non-governmental organisations) beteiligen sich nicht, die vorhandenen Gelder gehen an andere Projekte oder verschwinden in einem Sumpf aus Vetternwirtschaft und Korruption, der Kambodscha weiterhin im Würgegriff hat. Somit ist die Schule auf Hilfe von Sponsoren angewiesen.
Schon habe ich eine kleine Vision: Wie wäre es mit einer deutsch-kambodschanischen Kooperation? Immer wieder habe ich mit Carmen diskutiert, dass der deutsche Lehrplan für Geschichte und Geographie Asien doch stets stiefmütterlich behandelt, da gäbe es doch eine spannende Lücke zu füllen. Konkreter: Die Schule in Sla Gram könnte Material erstellen, mit dem das Leben in Kambodscha, die Kultur, das Land, die Geschichte etc. vorgestellt werden, wir bauen Brief- oder Mailfreundschaften zwischen deutschen und kambodschanischen Schülern auf, und an meiner Bensheimer Schule machen wir einmal im Jahr einen Kambodschatag, dessen Erlös direkt an dieses Projekt geht, ganz ohne die üblichen Reibungs- und Verwaltungsverluste von großen etablierten Organisationen. Ein echtes Graswurzelprojekt eben.
Ich habe meine Videokamera dabei und überlege zusammen mit Narath, wie wir in Form eines Videoportraits das Projekt vorstellen könnten, schließlich will die Schulgemeinde zu Hause ein Bild von der Sache bekommen. Wir drehen Interviews mit ihm, einem der Lehrer und einem Schüler, den wir zufällig schon vor Unterrichtsbeginn treffen.
Es sind noch zwei Stunden Zeit, und Narath stellt mich seiner Familie vor. Was ich erfahre ist erschütternd, ohne mein Hintergrundwissen über Kambodscha würde man es vielleicht als unglaubwürdig abtun: Naraths Vater wurde von den Khmer Rouge angeschossen und leidet seither an einer Art Epilepsie, die allerdings nur mit teueren importierten Medikamenten zu behandeln ist. Die Produktion der Tabletten wurde in Thailand leider eingestellt, das französische Ersatzprodukt ist ein Vielfaches teurer. Es gibt jedoch noch mehr Khmer Rouge-Opfer in der Familie: Der Großvater, der Arzt war, wurde - wie so viele Gebildete - von den Khmer Rouge ermordet. Fast jede Familie in Kambodscha beklagt Opfer aus jener Zeit, zwischen einer und drei der acht Millionen Menschen fielen dem wahnsinnigen Schlachten damals zum Opfer.
Naraths Familie lebt in ärmlichen Verhältnissen: Gemauerte drei Wände, Lehmboden, der übliche Unrat überall, zur Essenszeit verkauft man gegrillte Fleischspieße. Narath fährt mich zum Haus seines Schwiegervaters, wo er mit Frau und Tochter wohnt, seit sein eigenes Haus abgerissen wurde, weil das Grundstück verkauft werden musste. Ich werde zum Essen eingeladen, es gibt Reis, Morning Glory (ein gekochtes grünes Gemüse mit kleinen gegarten Fischen aus dem Reisfeld), gesalzenen Fisch, eine scharfe Erdnuss-Anchovi-Paste und zum Abschluss (noch anlässlich des Feiertages) Sticky Rice Cake (jeweils entweder Banane oder Schweinefleisch, eingehüllt in Reis und ein Bananenblatt, und dann gekocht). Ein gar nicht so schlichtes und sehr schmackhaftes Mahl, das aber vermutlich nicht repräsentativ ist für die Ernährung an gewöhnlichen Tagen.
Anschließend besuchen wir einen seiner Freunde, der sich um die jüngsten Schüler kümmert und ihnen im Wesentlichen das englische Alphabet beibringt. Mein Interview mit ihm verläuft zäh, er versteht kaum eine meiner Fragen, und schließlich gibt ihm Narath die Antworten Wort für Wort auf Englisch vor. Da gibt es noch einiges zu tun, denke ich mir, aber immerhin tun sie etwas. Man muss da seine Ansprüche als Westler eben runterschrauben.
Schließlich wird es Zeit, zur Schule zu gehen. Narath zieht sich um, während ich weitere Aufnahmen vor der dörflichen Umgebung mache und ein wenig Lokalkolorit einfange.
Als wir an der Schule ankommen, brummt der Laden. Ich schätze, dass da rund 80 Fahrräder stehen und noch mehr Kinder und Jugendliche den Schulhof und die bereits geöffneten Klassenzimmer bevölkern. Ich schaue mich um. Eine Klasse wird sogar von einem jungen Mönch in der traditionellen orangenen Robe unterrichtet. Ich lerne einen der jungen Kollegen Naraths kennen, der immerhin in ganzen Sätzen Englisch spricht, und gehe in seine Klasse. Rund zehn Kinder sitzen da, im Alter zwischen 12 und 15 Jahren. Ich werde nett (aber irgendwie unverständlich) begrüßt und der Unterricht beginnt. Der Lehrer liest einen Text vor und schreibt anschließend sämtliche im Text genannten Berufe an die Tafel, einschließlich der Bedeutung auf Khmer. Es ist nicht gerade der neueste Stand der pädagogischen Lehre, aber ich bin fasziniert, mit welcher Aufmerksamkeit und Disziplin die Kinder arbeiten und den Tafelanschieb in ihre Hefte übernehmen. Kein Getuschel, keine Störungen - der Traum eines jeden Lehrers! Ich werde dieses Video meinen Schülern in Deutschland zeigen, nehme ich mir vor. Vielleicht kommt dann auch bei ihnen an, welchen Wert das Gut Bildung hat, und dass die Armen in der Welt das schon lange begriffen haben.
Dann kommt meine große Stunde: Der Lehrer bittet mich, die Wörter mit meiner deutlich authentischeren Aussprache vorzusagen und dann die Kinder aufzufordern, nachzusprechen und sie gegebenenfalls zu verbessern. Die Leistungsniveaus sind sehr unterschiedlich (das klingt schon fast wie ein Unterrichtsentwurf, Abschnitt Lerngruppenbeschreibung), aber ich versuche, möglichst ermutigend auf alle einzuwirken. Am Ende spiele ich noch ein kleines Sprachspiel zum Thema "parts of the body", bis es schließlich stockfinster wird und man die Tafel nicht mehr erkennen kann. Um 18 ist ein Unterrichten nicht mehr möglich, die Kinder werden nach Hause geschickt.
Ich unterhalte mich noch mit den jungen Nachwuchslehrern, die größtenteils High School Schüler sind. Alle sind sehr nett und sind regelrecht verblüfft, als ich von meiner Idee eines Kooperationsprojektes mit meiner eigenen Schule spreche, das immer klarere Formen in meiner Vorstellung annimmt.
Narath fährt mich zurück nach Battambang und berichtet von seinen weiteren Plänen, die Ideen scheinen ihm nicht auszugehen: Er möchte in einem benachbarten Dorf ein ähnliches Projekt ins Leben rufen. Seinen Landsleuten mangele es einfach an Initiative, doch er hoffe, dass eine weitere Schule in dieser Form nach einer Weile ein Eigenleben entwickeln könnte. Schließlich seien die Kinder die Zukunft dieses kaputten Landes, und Bildung sei in Zeiten, in denen das Land nun endlich langsam wieder Beziehungen mit dem Ausland aufbaut und sich profitable Formen von Tourismus und Handel herausbilden, einfach unerlässlich.
Er hat mir bereits zu Beginn dieses Ausflugs seinen Businessplan für die Schule vorgelegt und deutlich gemacht, dass er sich über eine Spende sehr freuen würde. Ich entschließe mich, $20 für Schreibmaterialien zu spenden, und gebe ihm noch $5 für Benzin und seine Familie. Für uns sind das lachhafte Beträge, in Kambodscha muss man bedenken, dass das durchschnittliche Monatseinkommen bei rund $60 liegt. Mit einem erfolgreichen Aktionstag in Bensheim könnte man den Schuletat vermutlich mit einem Streich sanieren.
Ich steige an der Straße zu meiner Unterkunft ab, und wir verbleiben mit großen Absichten. Der Ausflug ist weit mehr gewesen, als ich mir gewünscht habe. Er war nicht nur ein Einblick in das wahre Leben der Landbevölkerung gewesen, sondern möglicherweise auch noch der Beginn eines weiter reichenden Hilfsprojektes.
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Carmen bedauert noch, dass sie nicht mitgegangen ist, als wir am nächsten Morgen auschecken um nach Bangkok weiterzureisen. Ich berichte dem Hotelmanager von meinen Erlebnissen am Vortag. Vielleicht kann ja auch er den einen oder anderen Gast dafür interessieren?
Seine Miene drückt Bedauern aus: "Der Mann ist bekannt. Die Polizei sucht nach ihm, weil es schon mehrere Beschwerden gab. Die Geschichte mit der Schule ist sein Geschäft." "Geschäft? Wie meinen?" "Er sucht sich gutherzige Westler, die er zu seiner vermeintlichen Schule einlädt. Durch Mundpropaganda werden alle Kinder im Dorf mobilisiert, jeder kommt mit seinen Schulunterlagen, die Klassenräume werden bezogen, es wird Schule gespielt."
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Eine Inszenierung? Mit 150 Komparsen, mehreren Hauptrollen (wenngleich nicht immer auch Sprechrollen), und einem Dorf als Kulisse?
Ich kann es nicht glauben. Und deshalb lasse ich den Tag Revue passieren. Es gab da Momente, die mich stutzig gemacht hatten, in denen mein Vertrauen kurzzeitig aussetzte, aber nie lange genug, um ernsthaft Zweifel zu säen. Kann es sein, dass zum Teil völlig unfähige Multiplikatoren eingesetzt werden, um Kinder zu unterrichten? Wieso wirkten die (im lokalen Kontext durchaus glaubhaften) Geschichten von Schicksalsschlägen irgendwie ein bisschen dick aufgetragen? Wieso stehen auf dem Businessplan die Betriebskosten für einen Generator, wenn es in der Schule doch gar keine Lampen gibt? Und wieso fährt mich Narath bei der Rückkehr nicht so, wie bei den kambodschanischen Fahrern üblich, bis fast in die Hotellobby, sondern lässt mich am Anfang der Straße raus? Will er nicht gesehen werden?
Ich habe noch kein endgültiges Urteil gefällt und werde versuchen, noch ein paar Nachforschungen anzustellen. Aber ich konnte Carmen nur zustimmen, als sie sagte: "In Asien braucht man keine Angst vor Raubüberfällen zu haben. Die Leute hier haben schlauere Methoden, um einem das Geld aus der Tasche zu leiern. Lieber so als mit vorgehaltener Pistole!"
Thom
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